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21. Prozesstag am Do., 09.12.2010 - Psychologische Gutachter Haller - Wiczorek

Rechtlicher Hinweis:

Anonymisierungsangebot


Jede der in diesem Artikel mit vollem Namen genannte Person, die eine Anonymisierung wünscht, möge sich bitte auf dem kurzen Dienstweg mit den Seitenbetreibern in Verbindung setzen.

Es handelt sich hierbei um Mitschriften eines öffentlichen Prozesses und einem entsprechenden öffentlichen Interesse an der Sache an sich.
Mit dem Anonymisierungsangebot erkennen wir jedoch an, dass wir evtl. Persönlichkeitsrechte als vorrangig behandeln und uns auch keinesfalls die im Prozess benannten Abläufe und Zitate zu eigen machen, sondern gerade eben die mögliche Unzulänglichkeit der dort getroffenen Aussagen ausstellen wollen.


Formalitäten


Von nun an ist im Saal der vom NK-Vertreter RA Rabe geladene zusätzliche Gutachter Dr. Peter Winkler aus Tübingen anwesend. Dieser soll zu dem heute von Prof. Haller erstatteten Gutachten Stellung nehmen.


Zunächst verliest der R. jedoch ein Schreiben der PD Waiblingen in Bezugnahme auf die am vorherigen Verhandlungstag von der Verteidigung aufgeworfenen Fragen bezüglich Unstimmigkeiten der Spurenakten. Dieses Schreiben sei am 08.12.10 von KOK Neumann persönlich dem Landgericht überbracht worden.


1. Die Spur 193 sei am 19.03.09 in der Datenbank angelegt worden, habe jedoch kein Deckblatt erhalten. Da man Wert auf Nachvollziehbarkeit lege, habe man, als die Akten zur Beiziehung angefordert wurden, ein Deckblatt erstellt und vorne angeheftet. Dies sei systembedingt jedoch mit Datum vom 21.10.10 ausgedruckt worden. Die Ermittlungsergebnisse habe dies nicht verändert.


2. Die Spuren 12, 13 und 14 seien durch einen Fehleintrag bei 12 wieder gelöscht worden und konnten systembedingt nicht mehr vergeben werden. Diese seien angehängt worden und nun als 15, 16 und 17 in der Datenbank erfasst. Die Spuren beträfen keine Vernehmungen des Angeklagten.


Der Gutachter Prof. Dr. Haller erstattet sein Gutachten


Das Beweisthema ist zunächst die Exploration der Familie K. Der GA gibt an, dass seit dem Vortage eine Entbindungserklärung von der Schweigepflicht durch Ute und Jasmin K. erteilt worden sei.


R

Sie haben offenbar den Angeklagten sowie Ute und Jasmin K. exploriert. Wann war das?


GA

Am 20.11.09, von ca. 10.30 Uhr - ca. 18 Uhr.


R

Und wo?


GA

Im Krankenhaus Maria-Ebene.

(Anm. d. Verf.: Österreich, Prof. Haller leitet dieses KH).



Der R. weist den GA nun darauf hin, dass Verwertungsverbote zu beachten seien. Alle Angaben der Krankenakten aus Weinsberg inkl. des Abschlußberichts sowie die polizeilichen Angaben von Ute und Jasmin K. seien wegzudenken.

Zu Beginn betont der GA , dass ihm das Leid der Opfer und Hinterbliebenen sehr bewußt sei. Da er jedoch zur Neutralität verpflichtet sei, werde er keine Stellung zu den Opferfolgen beziehen.

Als RA Steffan ihn gefragt habe, ob er ein Gutachten erstellen würde, sei der GA zunächst sehr erstaunt gewesen, weshalb er, und nicht ein deutscher Sachverständiger, einbezogen werde. Es wurde argumentiert, dass es besser sei, wenn ein ausländischer GA hinzugezogen werde, der von der medialen Berichterstattung wesentlich weniger mitbekommen habe.

Als Grundlage seines Gutachtes habe der GA sämtliche Akten zur Verfügung gehabt.

Bei der Exploration habe sich der GA für eine familiendynamische Befragung entschieden, d.h. alle gemeinsam statt einzeln.

Um sein Vorgehen und die Grundlagen transparent zu machen, macht der GA vorbereitende Ausführungen:


Das 1. Problem sei, dass es über das Phänomen „Amoklauf“ generell wenig Kenntnisse gibt: Es sei äußerst selten, relativ neu, und es gäbe ein mangelndes Interesse daran.

Dies führe zum 2. Problem, nämlich, dass es zwangsläufig sehr geringe Fallzahlen gebe, wobei andere Taten noch unter „Amok“ mit subsumiert würden.

Es gebe hier große methodische Mängel, da die Täter meist tot sind und nicht mehr untersucht werden könnten. Hinzu käme, dass es nur wenige Experten gebe, dies jedoch auch nur Einzelpersonen und keine Institute. Es gebe keine systematischen Untersuchungen, was die Erkennbarkeit für Angehörige betrifft.

Es sei zu unterscheiden zwischen äußeren Anzeichen, Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Störungen sowie inneren Abläufen. Letztere seien immer ein Stück weit hypothetisch. Es sei wichtig, die einzelnen Ebenen sauber zu trennen. Zum größten Teil müsse man mit Hypothesen arbeiten, mit rekonstruierten Abläufen, die erst im Nachhinein überprüft würden.
Daher müsse man sich vor Spekulationen hüten.

Dem GA sei wichtig, sich auch von der Beweiswürdigung abzugrenzen. Dies sei nicht immer einfach und die Schwelle würde leicht überschritten. Daher bittet der GA um entsprechenden Hinweis, falls dies im Rahmen seiner GA-Erstattung geschehen sollte.

Tatentstehung und -motivation seien sehr komplexe Themen und blieben „ein Stück weit immer unerklärlich“. Es müssten Unwägbarkeiten mit einbezogen werden und es gebe „wissenschaftlich kein sicheres Zeichen“, sondern nur „unspezifische Hinweise“. Der einzige Fakt, der in den weltweit 150 Untersuchungen zum Thema greifbar sei, wäre die Griffnähe zu Waffen.

Bei den sonstigen Risikokonstellationen kämen die Wissenschaftler zu dem Schluß, dass die sogenannten „School Shooters“ ihre Kennzeichen mit „unzähligen anderen jungen Menschen teilen“. Die Kennzeichen seien also häufig, aber auch bei tausenden anderen Menschen vorhanden. Der „letzte Kick“ sei der Wissenschaft also leider nicht bekannt. Die Frage nach „mad oder bad“ ließe sich somit nicht beantworten.

Wenn wir davon ausgehen, so der GA , dass Tim ein psychisch gestörter „School Shooter“ war, dann ist die entscheidende Frage: Welche Störung lag vor und war diese im Vorfeld erkennbar?

Die untersuchten „Amokläufer“ seien bislang alle entweder psychotisch, psychophatisch, traumatisiert oder neurotisch gewesen.

Bei Tim stelle sich also als 1. Frage, wenn man Weinsberg ausspart: War er geisteskrank?

Zu Widerlegen sei hier auf alle Fälle eine Schwachsinnigkeit: hiergegen sprechen die schulischen Leistungen, der Erwerb eines Führerscheins und der IQ-Befund von 96 ( 70% aller Menschen lägen hier zwischen 90 und 110 ).

Die Frage nach einer Geisteskrankheit gestalte sich also schwierig. Es gebe keine Hinweise auf eine auffallende Krankheit wie z.B. Verwirrung, Hören von Stimmen, optischen Erscheinungen usw., Schizophrenieen. Laut der gehörten Zeugen schieden auch Drogen aus.
Es gebe zwar Hinweise auf eine „manisch-depressive“ Belastung in der Verwandschaft mütterlicherseits (Ur-Opa, Oma), jedoch lägen hierzu keinerlei Unterlagen vor, so dass es sich auch nur um eine Meinung handeln könne.

Dann gebe es lediglich die Internet-Selbstdiagnose des Tim „biploare Störung“.

Die Schwester habe wiederholt von starken Verstimmungszuständen berichtet. Zudem sei dem GA von der Familie berichtet worden, dass Tim in der letzten Zeit sehr viel geschlafen habe. Übermäßiger Schlaf sei ein Anzeichen für eine Depression.

Jedoch müsse man auch wieder sehr vorsichtig sein, bei einer Diagnose von Jugendlichen. Man dürfe Depressionen, die sich hauptsächlich erst ab dem 30. Lebensjahr manifestierten, nicht mit pubertären Symptomen verwechseln.

Es gebe allerdings auch, als spezielles Problem, psychotisch blanke Verläufe ohne Anzeichen, wobei das erste und einzige Anzeichen die Tat an sich sei.
Diese Wahrscheinlichkeit halte der GA bei Tim aber für sehr gering.

Nun beschäftigt den GA die Frage, ob evtl. eine Störung in einer Gehirnregion vorgelegen haben könne - eine exogene Psychose.
„Absensen“, also das zeitweilige geistige „Weggetretensein“, habe kein Zeuge angegeben.
Von Auffälligkeiten des Gehirns sei bei der Obduktion nichts berichtet worden. Es sei also mit hoher Wahrscheinlichkeit auszuschließen.

Theoretisch gebe es jedoch die Möglichkeit von sehr schwer zu diagnostizierenden Mikroveränderungen im Gehirn.
Der GA führt hier einige Beispiele aus der Massenmörderliteratur an. Ein kleiner Tumor, der Zwangsgedanken auslöse oder eine Art „Mikroverletzung“ in einem kritischen Bereich. Dies sei jedoch sehr theoretisch und zu 99% widerlegt.

Nun kommt der GA zu einem weiteren großen Bereich: Die Persönlichkeitsstörung.

Dass eine solche bei Tim vorgelegen habe, bejaht der GA , darüber bestünde „diagnostische Einigkeit“. Sie sei allerdings keiner einzelnen Katagorie zuzuordnen, sondern bestünde aus mehreren Facetten:

Es sei eine Sozialvermeidung gewesen mit narzisstischen Tendenzen, eine Zwanghaftigkeit, eine Sonderlinghaftigkeit. Tim sei empfindsam gegenüber Kritik gewesen und hätte sich über gute Leistungen im Sport definiert.
Es sei aber keinesfalls eine sogenannte „Hochrisikostörung“ feststellbar. Laut GA gebe es ein Messverfahren hierfür nach „Harris“, genannt „PCL“. Hier liege Tim mit 10 von 25 Punkten weit unter dem „Cut Off“.

Zum Verständnis betont der GA , dass es sich bei Persönlichkeitsstörungen NICHT um Krankheiten handele, sondern nur um charakterliche Abweichungen von der Durchschnittsnorm. Der GA gibt hierfür verständliche Schwankungsbreiten an, z.B Begeisterung, Fanatismus oder Vorsicht bei extremer Ängstlichkeit. An solchen Störungen, so der GA , litten ca. 5% der Gesamtbevölkerung.

Die Hauptdiagnose laute also „soziale Phobie“, wobei Elemente hinzukämen wie Kränkbarkeit, eine negative Form des Narzissmus, und zwanghafte Züge; so sei Tim wohl sehr genau und pedantisch gewesen.
Es läge also eine „kombinierte Persönlichkeitsstörung“ vor, wobei die Diagnostik wiederum nicht bei 100% liegen könne, da dies bei einer retrospektiven Betrachtung nicht möglich sei.

Dann lägen allerdings noch eindeutige Hinweise auf eine starke „Neurotisierung“ vor: Druck, Forderungen, Konkurrenz zur Schwester und evtl. Hänseleien. Allerdings sieht der GA darin wiederum kein wirklich großes Trauma. Auf eine Existenzangst gebe es keine Hinweise.

Hier erwähnt der GA nochmals: keine Drogen, kein Alkoholmißbrauch und laut Angaben der Angehörigen: keine Medikamente.

Das Hauptproblem, so der GA , sei, dass Tim nicht eindeutig zuordbar sei. Man habe über sein Innenleben keine Kenntnisse. Tim sei ein guter Pokerspieler gewesen, ein „Pokerface“, ein Mensch mit „Sonnenbrille“.

Die Aussage von Julia G. sei „mit Vorsicht zu genießen“, meint der GA , zieht aber dennoch eine Aussage heraus:
„harte Schale-weicher Kern“ sei anders gemeint gewesen: nämlich dass Tim keinerlei Gefühle nach außen dringen ließ.
Dies sei ein sehr wichtiger Punkt. Pokern habe Tim meisterhaft beherrscht und hierbei seine innen und außen diamatral gegensätzlichen Seiten gut verstecken können.

Die folgenden psychologischen Betrachtungen bezeichnet der GA eindeutig als „Hypothesen“:

Gehe man davon aus, dass Tim extrem kränkbar gewesen sei, passiv narzisstisch, was er kaum gezeigt hat und was auch von z.B Pädagogen nicht bemerkt wurde, habe sich somit über Jahre ein Gefühlsstau ergeben, der niemals abgebaut werden konnte, da Tim nur mit Rückzug reagiert habe.

Er sei in eine Art Parallelwelt im „Cyberspace“ abgetaucht. Das ständige Verstecken seiner wahren Gefühle durch sein „Pokerface“ habe sehr viel Energie gekostet, wodurch er sehr erschöpft und zermürbt worden sei. Zu beachten: Die männliche Depression (erst die letzten Jahre erforscht) liegt nicht so sehr im Rückzug wie bei der Frau, sondern eher in Aggression, was zu Straftaten führen könne, weil man sozusagen den Versuch unternähme, die Einengung zu sprengen. Dies könne zu einer Amoktat führen, aber nicht nur. In seinen 27 Jahren Praxis, so der GA , sei er immer wieder mit unerklärlichen Gewaltdelikten konfrontiert worden, wobei das einzig konstante Risikoelement der Umgang mit Waffen dargestellt habe.

Um seinen Selbstwert zu stärken, könne Tim sich unter Druck gesetzt gefühlt haben - nicht unbedingt von außen - es könne durchaus ein innerer Druck gewesen sein. Sozusagen als Selbstheilung eine Anerkennung auf irgendeinem Gebiet zu erlangen, z.B. Tischtennis oder Armwrestling.

Da Tim von allen Zeugen als unflexibel und zwanghaft beschrieben worden sei, als verläßlich, z.B. beim Füttern der Haustiere, als nicht spontan, könne man von einer Planung der Tat ausgehen. Den Beginn möge er sich genau überlegt haben, so wie den Entschluß zum Suizid, dazwischen sei er nicht strukturiert gewesen. Nach dem 1. Schuß könne ein narzisstischer Höhenrausch eingesetzt haben, bei dem Tim sich überlegen und „godlike“ gefühlt haben könnte.

Der GA betont nochmals den spekulativen Charakter seiner Ausführungen. Es könne bei Tim zu einer Abspaltung der Gefühle gekommen sein, was sich in der Gefühllosigkeit den Opfern gegenüber geziegt habe, möglicherweise verstärkt duch die PC-Spiele.
Ein solcher Täter befinde sich dann in einer „Endzeitstimmung“, bei der ihm alles egal ist. Er sei kalt und berechnend, weil auch sein Ende schon feststehe.


Nun geht der GA auf die methodenkritische Stellungnahme des von RA Rabe beauftragten Dr. Winckler ein:


Er möchte keinen Gutachter-Streit entfachen, betont er, führt jedoch an, dass es mit methodenkritischen Stellungnahmen schon deshalb zu Problemen kommen kann, weil sie im Auftrag einer Partei erstellt wurden. Dr. Winckler kenne zudem die Familie Kretschmer nicht persönlich.
Auf einer Tagung, so führt der GA aus, wurde die Meinung vertreten, dass man mit solchen methodenkritischen Gutachten extrem vorsichtig sein solle, nicht zuletzt weil diese immer bestimmte Interessen wiederspiegelten.

Nun geht der GA auf dieses Gutachten von Dr. Winckler näher ein und greift die darin gemachten Vorwürfe auf.

(Nach Meinung des Verfassers konnte Prof. Haller diese vollends entkräften, ohne dabei die sachliche Ebene je zu verlassen).


Nun fährt der GA mit der Exploration der Familie K. fort:

Die Mutter habe verzweifelt und hilflos gewirkt, der Vater ruhig, zurückhaltend, konzentriert und affektarm. Er habe genau überlegt, bevor er etwas gesagt habe.

Der GA betont, dass ihm bei Jörg K. eine auffällige Schwäche in Gefühlsausdruck und -wahrnehmung aufgefallen sei.

Jasmin habe reif, aufgeschlossen und verbindend gewirkt und habe manchmal im Gespräch das Kommando übernommen, sei regelrecht vorgeprescht.

Während der Vater den Tim als „ganz normal, faul…“ beschrieben habe, hätten Mutter und Schwester ihn als „zurückgezogen, depressiv“ und jemanden, der „nicht an Familienspielen teilgenommen“ habe, beschrieben.

Die Mutter soll gesagt haben: „sympathisch war er nicht!“ Er sei nicht nett und nicht herzlich gewesen und oft unfreundlich. Nur Alten, Kindern und Tieren gegenüber habe er herzliche Gefühle offenbaren können. Das letzte Bild, das die Mutter vor Augen habe, sei gewesen, als er am Tatmorgen auf der Bank saß und die Katze gestreichelt habe.

Als Tim mit dem Ausdruck „bipolar“ zu ihr kam, sei in der Mutter Panik aufgekommen und sie habe sofort den Hausarzt konsultiert und später einen raschen Termin in Weinsberg vereinbart.

Die Eltern gaben an, Tim sei immer mit in Urlaub gefahren und es sei schon ein weiterer Urlaub zusammen geplant gewesen.

Zu Weinsberg führt der GA aus, der Familie sei nichts über eine Eigen- oder Fremdgefährdung Tims berichtet worden.
Aus seiner Sicht als Psychiater gebe es dafür nur 2 Möglichkeiten, da eine gesetzliche Verpflichtung bestünde, Personen, die eine akute Eigen- oder Fremdgefährdung darstellen, nach dem Unterbringungsgesetz sofort einzuweisen wären:

1. man hat in Weinsberg die Gefahr nicht erkannt bzw. entsprechend gewertet.

2. man hat in Weinsberg gegen das Gesetz gehandelt.


R

Wer hat bei der Exploration mehr geredet?


GA

Am wenigsten Herr K., am meisten Frau K., manchmal die Jasmin.


R

Und wer über welche Gebiete?


GA

Die Mutter eher über die Biografie, die Entwicklung und das Wesen Tims.


R

Gab es da auch Widersprüche? Hat jemand da was anders gesehen?


GA

Die Tochter hat manchmal herrisch eingegriffen, z.B. bei PC-Spielen, wo die Eltern die Meinung vertreten, Tim habe viel gespielt: „so viel nun auch wieder nicht!“.

Oder bei der Kleidung: Die Mutter: „ordentlich“, die Tochter: „Nein, er hat schon mal eine zerschlissene Jeans angehabt!“.

Oder Vater: „normal“, Mutter: „…stand nicht sehr unter Druck“, Tochter: „er war ein Looser!_ckgedit_QUOT_.


R

Das mit dem Druck wird mir nicht ganz klar. Was hat die Familie darunter verstanden?


GA

Die Familie hat betont, im Nachhinein würde man etwas anders machen. Die Mutter sagte: „Ich würde Druck wegnehmen!“ und meinte, dass man wohl zu viel Wert auf Lernen, Schule, Hausaufgaben gelegt habe. „Ich würde probieren, im Gespräch zu bleiben, auch wenn es schwierig ist.“
Der Vater sagte, er hätte den Kontakt mit Gleichaltrigen mehr fördern sollen.


R

Hatten sie denn das Gefühl, dass Tim Druck EMPFUNDEN habe? Mir fehlt noch immer das Konkretisierende.
Meinten sie evtl. Berufliches oder das Weiterkommen bei Donner&Kern?


GA

Die Eltern sind natürlich bestürzt von der Tat und haben eben das GEFÜHL, zu viel Druck ausgeübt zu haben.


R

Hat die Mutter sich Vorwürfe gemacht?


GA

Die Mutter hat Tim immer in Ruhe gelassen. Er hatte seinen eigenen Rhythmus und war immer pünktlich bis zum Ende. Er hat immer seine Tiere versorgt. Die Mutter habe ihn mal gefragt, was er denn werden will. Es schwebte ihr ein sozialer Beruf oder die Mitarbeit in der Fa. des Vaters vor. Tim habe geantwortet: „Lass mich in Ruhe..ich mach das schon!“

In Weinsberg sei beiden mitgeteilt worden, man solle Tims soziale Kontakte fördern. Es seien weitere Gespräche empfohlen worden, an denen Tim jedoch kein Interesse gehabt habe. „Das brauch ich nicht!“ habe er gesagt.
Der Vater habe dann überlegt, wie er die Kontakte fördern könne. Ihm sei dann das Vereinsleben im Schützenverein eingefallen. Tim sei zunächst daran nicht interessiert gewesen, sei jedoch dem Vater zuliebe mitgegangen. Dort habe es ihm dann gefallen.


R

Prof. DuBois hat in seiner Vernehmung den Vater als „wenig authentisch“ beschrieben. Ist das auch Ihre Meinung?


GA

Als Suchttherapeut war mein 1. Eindruck: Er trinkt zuviel, was sich dann auch bestätigt hat. Sein Verhalten wirkte etwas stumpf. Es gab keine affektiven Äußerungen. Insgesamt haben DuBois und ich wohl die gleichen Wahrnehmungen gemacht: Den mangelnden Gefühlsausdruck.


R

Was wurde zur Biografie berichtet? Gab es Auffälligkeiten in der kindlichen Entwicklung?


GA

Tim sei ein Wunschkind gewesen und kam per Kaiserschnitt zur Welt. Er habe sich ganz normal entwickelt. Tim lernte erst spät sprechen und hatte einen Sprechfehler, weswegen ein Logopäde aufgesucht wurde.
Mit 6 Jahren gab es eine Phimose-OP und eine Re-OP wegen starker Narbenbildung. Später war das Thema tabu sowie auch das Thema Sex im Elternhaus tabu war. Phimotiker entwickeln oft Sexualängste.


R

Wie war der Erziehungsstil?


GA

Normal und gewaltfrei. Die Schwester habe nur einmal Hausarrest bekommen, bei Tim war es ähnlich. Die Kinder wurden nie geschlagen. Um Tim habe man sich mehr gekümmert. Er hatte schlechte schulische Leistungen, dafür sei er im Sport gut gewesen. Er sei ein lebhafter Junge gewesen, hätte sich mit der Pubertät allerdings verändert. Tim sei eher ein Spätpubertärer gewesen.


R

Wie war das mit seinem Verhalten am PC?


GA

Das Alter vom PC wurde nicht erhoben. Tim sei aber bei allem sehr geplant und vorsichtig gewesen. Am PC habe er viel Zeit verbracht, zuletzt mit Pokern. Killerspiele soll er nicht mehr als andere gespielt haben.


R

Konnten Sie erfahren, wie Tim ab 18 indizierte Spiele erhalten hat?


GA

Nein.


R

Tischtennis nimmt ja einen breiten Raum ein. Es scheint ein wichtiges Thema zu sein. War dieser Vereinswechsel damals enttäuschend?


GA

Dort wurde eine Zusage nicht eingehalten. Danach habe Tim die Begeisterung für Tischtennis verloren.


R

Er hat dann Armwrestling gemacht?


GA

Ja. Und auch Körpertraining…eine Stunde jeden Abend mit Hanteln…auch vor der Tat. Man hat den Eindruck, Tim hat sich dadurch überlegen gefühlt.


R

Und er hat den 4. Rang bei den Deutschen Meisterschaften belegt?


GA

Ja.


R

Was hat der Vater über Waffen berichtet?


GA

Er selbst sei seit dem 15. Lebensjahr beim Schießen aktiv. Später hat er dann immer wieder weitere Waffen gekauft und sich allmählich ein Arsenal aufgebaut. Auch mit Jagdwaffen, obwohl er selbst nicht auf die Jagd gehe. Dies habe er aus Begeisterung heraus getan.


R

Und warum war er da so begeistert?


GA

Das habe ich nicht speziell gefragt. Herr K. ist seit 1999 herzkrank und wollte mit dem Rauchen aufhören. Als er mitbekam, dass Tim ihm zum Geburtstag am 12. Januar eine Stange Marlboro schenken wollte, habe er zu ihm gesagt, er solle ihm doch lieber Munition für den Schützenverein kaufen. Dann ist Tim da selbst hin und hat aber nichts bekommen. Daraufhin sei der Vater mit und habe mit Tims Geld bezahlt.


Der GA erläutert nun die bekannte Geschichte, weshalb J.K. die Beretta im Schlafzimmerschrank aufbewahrt habe.
Er habe diese im „obersten Fach in einem Etui aufbewahrt“, das zugehörige Magazin in einem Handschuh im Nachtkästchen.
J.K. sei sich sicher gewesen, dass dies außer ihm niemand wisse. Er habe dies immer heimlich dorthin gebracht und von dort geholt. Zudem habe Tim das elterliche Schlafzimmer gemieden. Auch von der Existenz und dem Lagerort des Messers soll Tim nichts gewußt haben.


R

Und wo war dieses Messer aufbewahrt?


GA

Dieses amerikanische Kampfmesser soll in der obersten Schublade zusammen mit anderen Metallteilen gelegen haben.


R

Im Schlafzimmer oder in einem anderen Raum?


GA

Das habe ich nicht erfragt.


R

Hatte die Mutter Kenntnis vom Aufbewahrungsort der Beretta?


GA

Die hätte davon gar nichts gewußt.


R

Was hat die Tochter dazu gesagt?


GA

Die hat sich nicht beteiligt.


R

Gab es da ein vorwurfsvolles Verhalten?


GA

Der Vater hat wiederholt vorgebracht: „Hätt' ich das nur nicht getan!“
Er hat sich ja auch von allen Waffen getrennt und alles gekündigt.
Er möchte mit Waffen nichts mehr zu tun haben.


R

Und die Tochter?


GA

Hat sich wieder nicht beteiligt.


R

Wurde auch über die Begeisterung von Tim für Waffen gesprochen? War er ein „Waffennarr“?


GA

Der Vater hätte sich gefreut, wenn Tim sich für den Schießsport interessiert hätte. Er hatte ihm die Softairs gekauft mit der Hoffnung, dass Tim sich dafür begeistert. Der fand das jedoch nicht so sehr faszinierend.
Tim kam eher über einen gewissen Wunschdruck des Vaters dazu.


R

Und mit den Softairs wurde dann im Keller geschossen?


GA

Ja, da war so ein Stand aus Styropor aufgebaut…, da schossen der Vater, Tim und seine Kollegen und teils auch Jasmin.


R

Da wurde offenbar auch Wert auf Sicherheit gelegt und Schutzbrillen verteilt - war das auf der Bahn oder im Keller?


GA

Ich habe verstanden: im Keller.
Es wurde geschildert, dass Tim mit seinen Kollegen wohl auch mal mit Farbkugeln auf das Haus der Nachbarn geschossen habe.
Der Vater habe ihn dann ermahnt, dies zu unterlassen.


R

Und wann ist in der Folge der Tim dann mit auf den Schießstand? Nach Weinsberg oder vorher?


GA

Der Vater hat betont, AKTIV erst nach Weinsberg.
Es sollte dort jedoch nicht ums Schießen gehen, sondern eher um die sozialen Vereinsaktivitäten, die sozialen Kontakte.


R

Haben Sie nachgefragt, warum gerade DORT?


GA

Es gäbe dort ein nettes Vereinsklima, es werde Karten gespielt und Bier getrunken…, eben DIESE Ebene.


R

Gab es dort Gleichaltrige?


GA

Kann ich nicht beantworten.


R

Und Tims Reaktion darauf?


GA

Anfangs ablehnend. Er ist wohl eher dem Vater zuliebe mit.


R

Und wurde geschildert, wie es dort vonstatten ging?


GA

Als 17jähriger durfte Tim nur unter Aufsicht schießen. Der Vater hat ihn zunächst mit dem Handling der Waffe vertraut gemacht.
Tim habe das rasch erfasst. Dann haben der Vater und Tim abwechselnd geschossen, je 20-30 Schuss.


R

Welche Waffentypen wurden benutzt?


GA

Es wurden wohl einige Waffen ausprobiert und Tim hat sich dann für die Pistole entschieden. Er sei erstaunt gewesen, wie schwer es sei zu treffen, ganz anders als in den Filmen.


R

Und das Vereinsleben hat ihm gefallen? Hat er sich da beteiligt?


GA

Offenbar wurde da auch Poker gespielt…, das hätte ihm schon gefallen.


R

Was wurde denn zum Tatablauf in Winnenden und Wendlingen gesagt?
Ist da irgend ein Handlungsmuster erklärbar? Wieso er z.B. an der ARS in sein altes Klassenzimmer ist?


GA

Das Thema Opfer war sehr schwer anzusprechen. Das ist eine Wunde, an die man nicht näher herangelassen wird. Da war man nicht sehr auskunftsbereit. Der Vater hat wohl klagsam versucht, einen Brief an die Hinterbliebenen zu schreiben. Davon wurde ihm wohl von den Ermittlern abgeraten. Er hätte auch die Adressen nicht bekommen.


R

Aber können die Kretschmers sich den objektiven Tatablauf erklären? Warum er in seine alte Klasse ist? Ob er da ein Spiel nachgespielt hat?


GA

Nach Meinung der Familie gab es schon ein paar Auffälligkeiten:

Tim habe in letzter Zeit viel mehr geschlafen.

Der Vater habe ihn einmal mit seinem Mercedes fahren lassen. An einer engen Stelle musste er warten, ist aber voll durchgerauscht. Der Vater hat ihn daraufhin angefahren. Tim habe geantwortet: „Ist doch eh gleich!“ Auf der Rückfahrt hätte sich das Gleiche wiederholt. Dies sieht die Familie als Hinweis im Nachhinein.

Auch habe Tim auf Anraten des Arztes eine stärkere Brille gebraucht, sich aber geweigert. Dies soll in den Faschingsferien gewesen sein. Zunächst sei dies unverständlich gewesen, im Nachhinein könnte dies aber auf den geplanten Suizid hindeuten.

Am 10.03. sei die Mutter am Bahnhof in Waiblingen vorbeigefahren und habe Tim gesehen, wie er mit jemandem gescherzt hat. Er habe ihr kurz zugewunken.

Am Abend vor der Tat habe Tim noch Hanteltraining gemacht.

Morgens saß er noch auf der Bank und habe die Katze gestreichelt. Die Mutter habe später nur gehört, wie die Haustüre zufiel. Da müsse Tim gegangen sein.
Als Vermutung zum Motiv betont die Mutter, es müsse mit dem „Druck zu tun“ haben.


R

War etwas über Mobbing bekannt?


GA

Das wurde verneint.


R

Und von der „bipolaren“ Störung war im Frühjahr 08 die Rede?


GA

Ja. Auffallend hier der Fachausdruck „bipolar“.


R

Dann ist man wohl zum Hausarzt Dr. Schuler gegangen. Was haben Sie hierüber erfahren?


GA

Die Mutter sei panisch geworden und hätte sofort den Vater angerufen. Der hätte den Rat gegeben, zunächst den Hausarzt aufzusuchen. Dies sei noch am gleichen Abend geschehen. Vom Hausarzt habe man dann eine Liste mit Einrichtungen erhalten, die man am nächsten Tag abtelefoniert habe.
In Weinsberg habe man dann 2 Wochen später einen Termin bekommen.


R

Waren die Eltern mit beim Hausarzt?


GA

Ich glaube, Tim war dort alleine.


R

Und wie hat der Dr. Schuler die Situation eingeschätzt?


GA

Abklärungsbedürftig.


R

Und wie kam Tim dorthin, 2 Wochen später, nach Weinsberg?


GA

Das hab ich so verstanden, dass beim ersten Mal alle 3 zusammen dort hin sind. Es habe insgesamt 5 Gespräche gegeben.
Der Vater sei beim ersten und letzten Mal dabei gewesen, sonst nur die Mutter. Das letzte Gespräch hätte mit Frau Helm und dem Oberarzt Dr. Burb stattgefunden.


R

Und mit welchem Inhalt?


GA

Dass Tim unter einer sozialen Phobie leide und weitere Gespräche notwendig wären, an denen Tim aber selbst kein Interesse habe. Die Mutter sei sehr erleichtert gewesen, dass der vorherige Verdacht ausgeschlossen war.


R

Und Berichte von Aggressionen, Mordfantasien?


GA

Es ging darum, dass Tim mehr Kontakt brauche, um seine sozialen Ängste zu überwinden. Alle Angehörigen bestreiten vehemment, dass etwas von Aggressionen oder Mordfantasien gesagt worden sei.


R

Die Klinik in Weinsberg ist ja nun über den Inhalt ANDERER Meinung. Was sagt die Familie dazu?


GA

Das hat man den Akten entnommen und man hat gemeinsam gesagt, man sei sehr entrüstet, besonders die Mutter.


R

Die Frau Loy hat ja nun hierzu gewisse Aussagen gemacht. Wurde das Ihnen ähnlich geschildert?


GA

Nein, das wurde so nicht geschildert.


Zum Thema Mädchen schildert der GA den bekannten Sylvester-Vorfall (berichtet von Mutter und Schwester).
Hinzu kommt ein Ereignis Sylvester 08/09, wo 3 Freundinnen von Jasmin zum Bleigießen eingeladen gewesen sein sollen und Tim sich dann „auffallend an die Julia drangehängt“ haben soll. Weiteres wird hierzu nicht ausgeführt.

Zum Thema Freunde wird berichtet, Tim habe wohl keine „richtigen Freunde“ gehabt, sei ein Einzelgänger gewesen und nach Meinung der Schwester „ein Looser“.



R

Wurde irgendein Bezug zu dem ehemaligen Klassenzimmer hergestellt?


GA

Die Mutter hat gesagt, Tim habe das „Klassenzimmer nicht zufällig ausgewählt“. Sie ist aber hierauf nicht näher eingegangen.


R

Weshalb?


GA

Ich spürte die krampfhafte Vermeidung, jemanden zu belasten.


R

Es ist aber gerade wichtig, welche Beziehung zu DIESER Schule bestand. Oder meinte sie das nur retrospektiv?


GA

Kann ich nicht beantworten.


R

In der Expertise von Prof. DuBois waren damals ja sexuelle bzw. masochistische Motive Gegenstand? Wurde darüber gesprochen?


GA

Da ist nie etwas aufgefallen. Das Thema ist in der Familie tabu. Bei diesem Gedanken herrscht Verständnislosigkeit.


R

Hatte Tim Zugang zum Tresor?


GA

Nein. Dem Vater war auch nicht erklärbar, dass Tim Dinge gewußt hat, von denen er nicht geglaubt hat, dass er sie weiß.
Tim müsse ihn „hinter“ seinem „Rücken ausspioniert“ haben
.


R

Waren denn die Sätze in dem, was man für Tims „Testament“ hielt, ein Thema?


GA

Das ist unerklärlich. Ich habe kein polizeiliches Verhör gemacht - Sie verstehen?


R

Niemand macht Ihnen einen Vorwurf. Ich muss das eben fragen.


GA

Niemand sieht dort ein Motiv. Es herrscht große Ratlosigkeit. Der Vater hat dazu gar nichts gesagt.


Zur Frage der verminderten Schuldfähigkeit, hätte Tim überlebt, führt der GA aus, dies ließe sich nicht mit absoluter Sicherheit beantworten. Das Hauptproblem bestünde in der Graduierung der Störung. Eine gutachterliche Beurteilung sei immer eine Wertung. § 20 STGB würde er aber aus jetziger Sicht ausschließen.



R

Gibt es aus Ihrer Sicht Anhaltspunkte dafür, dass Herr K. Dinge nicht erkannt haben könnte, die jeder andere erkennt?


GA

Ich will hier nicht um den Brei herumreden: Psychische Krankheiten sind für den Laien generell sehr schwer zu erkennen. Die intellektuellen und kognitiven Fähigkeiten sind bei Herrn K. nicht beeinträchtigt. Es gibt jedoch eine Schwäche im Gefühlsausdruck und der Gefühlswahrnehmung.


Nun wird eine Zäsur eingeleitet.



RA Rabe:

Wurden denn die Verhaltensauffälligkeiten von Tim in der Familie kommuniziert?


GA

Nur in allgemeiner Form, nicht spezifisch.


RAin Stuff:

Sie hatten ja berichtet, Herr K. habe als Motiv für den Schützenverein angegeben, dass er sich dort eine Verbesserung von Tims sozialen Defizite erwartet habe. Ist das denn gelungen?


GA

Das wurde von ihm bejaht.


RAin Stuff:

Hatten Sie auch gefragt, wie oft dieses „abends Zusammensitzen im Verein“ im Beisein von Tim vollzogen wurde?


GA

Ich habe da keine Zahl erfragt. Es wurde nur berichtet, das habe funktioniert. Herr K. schien mir im Umgang mit seinem Sohn hilflos zu sein, was wohl an seiner mangelnden Gefühlswahrnehmung liegt. Er verfügt nicht über ein pädagogisches Feeling.


RAin Stuff:

Sie berichten über ein auffälliges Defizit in der Wahrnehmung von Gefühlen: Wenn Dritte ihm nun über gefährliche Gefühle berichtet hätten, hätte er dies zu 100% wahrnehmen können?


GA

Ja. Kognitiv ist er nicht beeinflußt.


RAin Stuff:

Sie haben ja den Dialog mit der Familie offenbar direkt diktiert. Weshalb haben Sie nicht das ganze Gespräch aufgenommen?


GA

Dies ist für mich schwierig schon wegen des Dialekts und außerdem Geschmackssache.


RAin Stuff:

Ist das Diktat noch erhalten?


GA

Nein.


RA Steffan:

In Ihrem Gutachten auf S. 70 erwähnen Sie einen Hinweis auf die Patronen: Demnach sollen 10 im Magazin im Nachttisch im Lederhandschuh gewesen sein und 40 im Hängeschrank. Bekamen Sie noch Infos über diese 50 Stück hinaus?


GA

Nein. Das war der einzige Hinweis.


RA Steffan:

Wäre es für Ihre Begutachtung von Interesse gewesen, wenn von den Therapeuten in Weinsberg von einer Eigen- oder Fremdgefährdung berichtet worden wäre?


GA

Selbstverständlich. Dies ist ein entscheidender Punkt. Amokläufe sind sehr selten. Viel häufiger sind Suizidgedanken. Dies ist viel wahrscheinlicher. In 1. Linie also das Problem eines Suizid. Die Wahrscheinlichkeit hierfür ist um 10er Potenzen höher. Wenn man also darüber informiert hätte, dass Tim evtl. suizidgefährdet sei, hätten entsprechende Schritte eingeleitet werden müssen. Insofern hätte dies m.E. höchstes Gewicht.
Für den Laien ist das also noch weniger erkennbar, wenn es hierüber keine Mitteilung gibt.
Suizid wäre hier also das größte Risiko und muss entsprechend gewertet werden.


RA Gorka:

Sie waren ja nun einige Tage anwesend und wir haben auch einzelne Lehrer Tims angehört. U.a. Lehrer, die eine besondere Ausbildung besitzen, wie Frau Dr. Domaschke, Dr. der Psychologie, und die Deutschlehrerin mit einer umfangreichen Erfahrung. Diese Lehrer haben den Tim ja sehr häufig gesehen.
Hätten diese Lehrer MEHR Hinweise auf Suizid oder Amok geben können?


GA

Vom Wissen her ja, aber das wird kompensiert durch die relativ geringe Nähe und Sorge. Was aber ganz wichtig ist, neben dem Poker, ist die Subtilität der Symptome, sowohl bei Tim als auch seinem Vater auf einem ganz subtilen Niveau.
Um es konkret zu sagen: Ich glaube nicht, dass eine pädagogische Person eine Diagnose stellen könnte, obwohl sie eher in der Lage dazu wäre als ein Laie. Man muss bedenken, dass das Wissen über Amok auch in pädagogischen Berufen sehr bescheiden ist.


RA Steffan:

Sie sprachen ja vom Risikofaktor Waffenverfügbarkeit. Wie ist Ihre Auffassung? Müsste bei einem Verdacht seitens der Therapeuten die Waffenverfügbarkeit abgefragt werden?


GA

Bei einem Verdacht muss die erste Frage sein: Gibt es eine Griffnähe zu Waffen?


RA ?

Sie beschreiben bei Herrn K. eine Gefühlsschwäche. Wie ist das Ausmaß denn einzuordnen? Hat das eine pathologische Qualität oder ist das eher ein Charakterzug?


GA

Auf einer diagnostischen Ebene ist das nicht zu beschreiben. Es gibt sehr wenig Gefühlsschwingungen. Herr K. ist ein stämmiger, pyknischer Mann mit Vollbart. Es ist ein Persönlichkeitszug.


RA ?

Wirkt das nach innen oder nach außen?


GA

Beides.


R

Da Sie mir nicht persönlich bekannt sind, muss ich Sie noch nach Ihrer Sachkunde fragen. Sie sind Universitäts-Professor und in Österreich als allgemeiner gerichtlicher Sachverständiger zugelassen? Seit wievielen Jahren?


GA

Ja. Seit 1983. Ich habe auch eine Buch geschrieben: „Das psychiatrische Gutachten“


RAin Stuff:

Es gab also bei Herrn K. gewisse Anzeichen für Alkoholmißbrauch?


GA

Ja.


RAin Stuff:

Waren die äußerlicher Natur?


GA

Ich habe natürlich keine Laboruntersuchung gemacht. Äußerlich war es das gerötete Gesicht mit verstärkter Gefäßzeichnung. Es gab aber keine Leberzeichen und auch keinen Fingertremel.
Die Hinweise waren eher im psychischen Bereich.


RAin Stuff:

Zum Zeitpunkt der Exploration oder schon in der Vergangenheit?


GA

Nur zum Zeitpunkt der Untersuchung. Herr K. hat mir auch mitgeteilt, dass er nach dem Amoklauf mit Alkohol einen falschen Versuch der Selbsttherapie gestartet hat. Es handele sich aber nicht um eine Sucht.


RAin Stuff:

Deuten die äußerlichen Symptome eher auf einen kurzfristigen Mißbrauch hin?


GA

Sowohl als auch…. Das Problem ist, dass diese Symptome auch andere Gründe haben können. Wie wir wissen, ist Herr K. ja herzkrank.


RAin Stuff:

Hat Ihnen gegenüber die Familie oder die Verteidigung irgendwelche Erwartungen an Ihr Gutachten geäußert?


GA

Nein. Das habe ich auch positiv aufgefasst. Von vielen Anwälten bin ich das anders gewohnt.
Ich erstatte meine Gutachten dennoch immer mit absoluter Neutralität.


RAin Stuff:

Warum haben Sie die Familie „en block“ exploriert?


GA

Das schien mir eine Wesensfrage zu sein, weil das Bild durch eine Familienkonstellation besser erfaßbar ist.


NK Minasenko:

War Vater für Tim K. Vorbild?


GA

Kann ich nicht sagen. Es gibt keine Hinweise, dass Tim ihm nachgeeifert hat. So soll er ja erst nach Drängen zum Schießsport gekommen sein.


NK Minasenko:

Tim hatte narzisstische Züge - die gleiche Züge hatte Vater Tim?


GA

Da muss man vorsichtig sein. Das ist in der Kriminologie ein beliebtes Erklärungsmodell geworden.
Bei Tim kam das nicht nach außen, sondern es war die negative Form des Narzissmus: Das Kränkbare.
Also eine hohe Empfindlichkeit, was beim Vater nicht ist.


NK Minasenko:

War Herr K. autoritär in Familie?


GA

Meinem Eindruck nach war er stämmig und hat schon gewußt, was er will, aber das Dominante war nicht so eindeutig. Emotional ist die Frau stärker.


NK Minasenko:

Man kann also Schützenverein mit Tim anders sehen - dort hat gute Leistungen gehabt mit Bier und Poker.


GA

Kann man so sehen als Hypothese.


NK Minasenko:

Hat Herr K. nach Amoklauf eingesehen, Besuch Schützenverein mit Tim war Fehler?


GA

Ich habe den Eindruck, ALLES was mit Waffen zu tun hat, wird im Nachhinein als Fehler gesehen.
Im speziellen Fall macht er sich schon Vorwürfe. Er könne sich das mit dem Schützenverein nie verzeihen.
Dies wird stark begründet mit der Weinsberg-Überlegung.


RAin Stuff:

Hatten Sie Zweifel an der Authentizität des Herrn K.? Könnte er Sie belogen haben?


GA

Ich habe da keine Wertung vorgenommen. Das kann ich nicht beantworten.



Nun stellt sich die Frage, ob Prof. Haller aus der Verhandlung entlassen werden könne. Die Verteidigung hält es für sinnvoll, dass er bleibt, bis Dr. Winckler sein Gutachten vorgetragen hat.
Dr. Winckler gibt an, er habe schon mit dem Wort „Gutachten“ Schwierigkeiten, da er gar nicht an der Beweisaufnahme teilgenommen habe und lediglich eine Stellungnahme zu Hallers Gutachten angefertigt hat, die in weniger als einer Stunde abgehandelt werden kann.


Oberpsychologierat Wiczorek erstattet sein Gutachten


Als nächstes erstattet der 52jährige Oberpsychologierat Wiczorek , Dipl. Psych. beim Einsatz- und Kriminalpsychologischen Dienst BW sein Gutachten.


Der GA gibt an, kein Psychiater zu sein. Er gibt an, seit 10 Jahren beim LKA tätig zu sein und nun dort den Einsatz- und Kriminalpsychologischen Dienst zu leiten. Zuvor sei er als Therapeut im Strafvollzug eingesetzt gewesen.

Zu den Haupteinsatzgebieten gibt er an: Einschätzung von Tätern und die Bewältigung von kriminalpsychologischen Einsätzen bei Geiselnahmen, Erpressungen, Entführungen, Amoklagen und Tötungs- und Sexualdelikten.

Der GA habe ab 12.03.09 begonnen, die polizeilichen Erkenntnisse über Tim K. zu bündeln und am 15.06.09 seinen Bericht fertiggestellt. Zusätzliche Erkenntnisse aus der Hauptverhandlung fließen nun auch noch in seine Bewertungen ein, so der GA.

Fast alle Gutachten zum Thema Amok bezögen sich auf eine Studie des US-Secret-Service mit 41 Tätern, von denen 10 noch befragt werden konnten. „School Shootings“ seien demnach keine abrupten Taten. Alle Fälle seien aus Täterperspektive logisch erklärbar und ließen keine Pathologie, sondern komplexe, multiple Motivstrukturen erkennen, die zueinander in Wechselwirkung stünden. Der Verlauf sei folgender: Tatidee > Planung > Organisation > Entscheidung.

Neben den bekannten Inhalten der Ermittlungsakten habe der GA auch die polizeiliche Vernehmung der Stefanie Klein zugrunde gelegt. Der Vorfall an Sylvester 07/08 würde sich mit deren Angaben decken.


Anmerkung des Verfassers:
Im Grunde berichtet der GA nichts Neues. Vielmehr läßt er wieder und wieder die bereits bekannten Geschichten aus Tims Biografie Revue passieren, um dort im Nachhinein irgendwelche Enttäuschungen, Kränkungen und psychischen Auffälligkeiten hineinzuinterpretieren. Immer wieder gerne genommen werden die Chatprotokolle der Jasmin, die fehlende soziale Anerkennung vor allem bei Mädchen, die angeblichen SM-Szenarien auf Tims PC, die Enttäuschungen im Tischtennis-Verein, die privaten Recherchen zum Thema Amok usw. usf.


In der Einschätzung von Tims Persönlichkeitsstörung folgt der GA den Ausführungen von Prof. Haller:


Es handele sich hierbei nicht um Krankheiten im pathologischen Sinn. Tims Symptome erlaubten keine eindeutige Zuordnung, sondern enthielten gemischte Anteile.
Dennoch betont der GA , dass bei der Diagnostik bei einem 17jährigen Vorsicht geboten sei, da so junge Personen sich noch in der Entwicklung befänden.

Das Motiv für eine solche Tat sei i.d.R. eine Bündelung von Elementen, so der GA . Sodann entwickelt er seine Hypothese dessen, wie es zu Tims Gewaltausbruch kommen konnte, indem er alles Obige nochmals wiederholt, diesmal nur mit weiteren Spekulationen über Tims innere Abläufe. Rund um Tims selbstunsichere Persönlichkeit mit überdurchschnittlicher Kränkbarkeit und immer mehr aufgestautem Frust, strickt der GA gekonnt eine schon durch die Vergangenheit angeblich bestätigte Hypothese.

Im Gegensatz zu Prof. Haller ist der GA der Auffassung, dass Therapeuten - im Gegensatz zur Polizei - nicht zwangsläufig nach Waffen fragen müssten.

Eine Bewertung von Tatgedanken, so der GA , könne nur von Spezialisten vorgenommen werden.



RA Gorka:

Die spezialisiert sind worauf?


Der GA gibt an, dass man zunächst einmal spezielle Infos brauche, in Form von Tatgedanken. Das reiche aber noch nicht aus, um ein solches Geschehen auch zu erwarten. Die Beurteilung der Zusammenhänge gelänge nur speziellen, auf School Shootings spezialisierten Teams. Ohne dieses Spezialwissen und ohne dass man die richtigen Frage stelle, sei eine solche Entwicklung NICHT VORHERSEHBAR.


RA Steffan:

In welchen Zeitraum ordnen Sie die Tatvorbereitung ein?


GA

Wenn wir davon ausgehen, dass Tim die Tat begangen hat, dann ca. 1 Jahr.


RA Steffan:

Was ist der Unterschied zwischen Tatidee und Tatplan?


GA

Eine Idee bleibt zunächst nur eine Fantasie ohne reale Umsetzung.


RA Steffan:

Und ab wann kam dann der Tatplan zum Tragen?


GA

Wenn man da ein bestimmtes Ereignis nehmen müsste, würde ich sagen, dass das AKTIVE Mitwirken im Schützenverein ein starkes Indiz für Tatplanung und -organisation ist.


RA Steffan

Deutet da auch die Internetrecherche zum Thema Amok drauf hin, ab 26. Januar 2009?


GA

Ist eine Hypothese, aber würde passen.


NK Minasenko:

Wenn Info Patient aggressiv ist, dann Therapeut muss Waffen fragen oder nicht? Wessen Aufgabe ist zu sagen … muss Arzt fragen?


GA

In einem diagnostischen Gespräch von jemandem, der sich mit School Shootings auskennt, würde die Frage vermutlich gestellt werden. Im klinischen Bereich gibt es keinen Konsens, dieses Frage zu stellen. Eher im polizeilichen Bereich. Es wäre natürlich wünschenswert, dass dieses Wissen auch im klinischen Bereich weiter verbreitet wäre.


NK Minasenko:

Also nicht Arzt soll Frage - Herr K. soll sagen?!


R

Das ist eine Frage, die der Sachverständige gar nicht beantworten kann.


Prof. Haller:

Gab es auf dem PC von Tim Hinweise, dass er sich nach Waffen erkundigt hat?


GA

Einen Hinweis, wo er sich Infos über Ladehemmungen besorgt hat.
Der ist allerdings schon älteren Ursprungs.


R

Von 2008.


Der GA wird nun entlassen.


Formalitäten II


Nun wird von der STA kurz zu den laufenden Ermittlungen gegen Frau Loy berichtet:


Es existierten 4 Leitz-Ordner hierzu, die zur Akteneinsicht bei Gericht kommen können. 1 weiterer Ordner betreffe die Auswertung des Handys. Dort sei außer einer relevanten SMS „fast nichts Relevantes“ enthalten.
Teile jener Akten seien geschwärzt worden, aufgrund des Zeugenschutzes der Familie K., da darin Hinweise auf deren Aufenthaltsort zu finden seien.


RA ?

Und was ist mit der Ermittlungsakte?


STA

Die gibt es noch nicht, da die Ermittlungen nicht abgeschlossen sind.


RA Gorka erweitert seinen Widerspruch der Verwertung auch auf diese Akten.


Die STA betont, es habe zwischen der 1. und der 2. Vernehmung von Frau Loy zwischen dieser und der Fam. K. kein Kontakt erhoben werden können.


RA Gorka ist mit der zu Protokoll gegebenen Formulierung seines Widerspruchs noch nicht zufrieden und fügt noch diverse juristische Eventualitäten ein, um wirklich ALLES, was im Zusammenhang mit Frau Loy steht, von einem Verwertungsverbot erfassen lassen zu können. Also beispielsweise auch Dinge, die NICHT in diesen Akten stünden, wie E-mails beim Provider oder sonstige Asservate. Er möchte da auf Nummer sicher gehen.


Vom Herrn OSTA wird dieses juristisch korrekte Vorgehen mit folgenden Worten quittiert:

Ich glaube, da gibt es ein gewissens Grundmisstrauen, das Ihnen innewohnt!


STA

Trauen Sie uns etwa nicht?


Die Verteidigung beantragt nun die Beiziehung sämtlicher Funkprotokolle und Einsatzkalender der Polizei vom 11. und vom 12.03.09 zum Nachweis der Tatsachen, dass der Angeklagte schon vor dem 13.03. als Beschuldigter hätte belehrt werden müssen.

Am 11.03. um 11.15 Uhr sei durch den KD Fuchs an den POR Höhnle das Ergebnis der Hausdurchsuchung bekanntgegeben worden. Evtl. sei hierzu POR Höhnle zu befragen.

Die erste Vernehmung des Herrn K. habe am 11.03. von 12.27 Uhr bis 14.39 Uhr stattgefunden durch den Beamten Stimpfle, der somit schon vor 14 Uhr erfahren haben müsste, dass es sich um die Pistole handeln musste, mit der die Tat begangen wurde. Es sei zumindest nicht unwahrscheinlich gewesen, dass Tim mit dieser Beretta die Tat beging. Diese Kenntnisse seien der Einsatzleitung und den Vernehmungsbeamten zuzurechen. Demnach habe kein Recht bestanden, Herrn K. als Zeuge zu vernehmen, zumal Tim bei Beginn der Vernehmung schon tot war.

Zudem existiere ein Artikel bei Stern.de, in dem sich der Beamte Michelfelder schon am 12.03.09 um 18 Uhr geäußert habe, der Vater habe sich bei der Verwahrung der Waffe „nachlässig“ verhalten. Somit könne davon ausgegegangen werden, dass Herr Michelfelder ebenfalls schon vor dem 13.03.09 Herrn K. in einem Beschuldigtenstatus gesehen habe.


Somit endet dieser 21. Prozesstag.

Zuletzt geändert: 27/07/2022 14:36